Aus dem Alltag einer Pressestelle

Um die Mittagszeit Anruf einer Journalistin des WDR. Im Kabinett werde heute das „Starke-Familien-Gesetz“ beraten – da suche man für verschiedene Sendungen einen Drehort. Die Sendungen würden alle heute noch laufen, evtl. sogar in der Tagesschau. Es gehe darum, Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Die könnten vielleicht sagen, dass das noch nicht genug sei, was da beschlossen werde – oder was sie sich wünschten. Ob wir als Pressestelle der Caritas jemanden finden könnten.

Ich schlage den Dreh in einem Kindergarten vor. Das ist ihr nicht so recht, sie möchte lieber Eltern filmen. Wir diskutieren ein bisschen über „Familienzentrum“, sie scheint unter dem Begriff etwas anderes zu verstehen als ich. Sie möchte lieber Eltern als Kinder filmen.
Ich erkläre ihr, wie schwierig das ist, jemanden auf die Schnelle zu finden, da ja viele potenzielle KandidatInnen jetzt arbeiten, ob zuhause, oder wo auch immer – jedenfalls nciht gerade auf Abruf bereit stehen, wenn die Caritas anrufe. Kontakt könnten wir am besten bei der nächsten Begegnung herstellen. Ja, aber wir als Caritas hätten auch was davon. Wir würden ja auch davon profitieren, wenn über dieses Thema berichtet werde. Es müssten nicht unbedingt Eltern sein, es könnte auch eine Beraterin sein, die mit den betroffenenn Familien täglichen Umgang hat und wisse, was die brauchen.

Ich schlage vor, jemanden aus der spitzenverbandlichen Interessenvertretung zu befragen. Da hätten sie schon Herrn Schneider (Anmerkung: Bundesgeschäftsführer des Paritätischen) und Herrn Hilgers (Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.)

„Wir sind Fernsehen – wir brauchen Bilder“, sagt sie noch.

Warum ihr die Kollegen vom Kinderschutzbund oder vom paritätischen keine Konatkte zu Betroffenen anbieten, wage ich nicht zu fragen. Wenn Fernsehjournalismus heute so funktioniert, brauchen sich Medien nicht zu wundern, dass sie immer weniger Relevanz haben. Sie haben zu wenig Interesse für die Wirklichkeit, sondern nur den Auftrag, Bilder zu liefern. Der Rest kommt dann im Text, die Rollen sind schon verteilt. Dass das Bedürfnis, bei solchen Beiträgen als Statist mitzuwirken, schwindet, ist ja wohl allzu verständlich. Dass die Kolleginnen und Kollegen in den Presstellen selbst nicht dasitzen und Däumchen drehen und loslegen, wenn der WDR anruft und Betroffene sucht, müsste eigentlich auch klar sein.

Was ich auch nicht verstehe: Warum man solch einen Beitrag nicht früher plant. Die Medien wissen doch, was nächste Woche auf der Tagesordnung steht, sie können doch vorher Termine ausmachen und Drehorte auskundschaften.

Künstliche Intelligenz – wahrnehmbare Skepsis. Eindrücke von den Münchener Medientagen

Eindrücke von den Münchener Medientagen 2018

Man merkt an Äußerlichkeiten, was die Stunde geschlagen hat. Die Macher (und Macherinnen) der Medientage München gaben der Veranstaltung den Titel „Engage!“. Die Befehlsform, verdeutlicht durch das unmißverständliche Ausrufezeichen zieht den gesellschaftlichen Handlungsrahmen breit auf. Ergänzt durch die Unterzeile Shaping Media Tech Society. Wie sagte es der Veranstalter so schön: „Nicht jede Verwendung der neuer Technologien – etwa das Social Scoring – ist auch gesellschaftlich erwünscht.“ „Deshalb gehören Innovationen und die Debatte über ihre gesellschaftlichen Folgen im Zeitalter der Digitalisierung zusammen.“ (Siegfried Schneider, Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien und Vorsitzender der Gesellschafterversammlung der Medientage München). Hieß der Wahlspruch der Aufklärung noch „sapere aude, so geht es jetzt also vor allem um die Tat.

Nun denn. Absolut gehyptes Thema ist die Künstliche Intelligenz (KI). Erstaunlicherweise war viel Skepsis und Relativierendes zu hören. KI hängt von Informationen ab, von den Daten, mit denen die Algorhithmen gefüttert werden. Sind die „Rubbish“, dann sind die Ergebnisse von KI schlecht. Der Mensch entscheidet. „Das müssen wir hochhalten!“, so zum Beispiel Prof. Dr. Wolf-Dieter Lukas, seit 2005 Leiter der Abteilung “Schlüsseltechnologien – Forschung für Innovationen” im Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Ein Plädoyer für Bauchentscheidungen

Die Beispiele, wie KI daneben liegt, gingen jüngst durch die Medien. Amazon hat KI genutzt, um die Bestenauslese bei  Bewerbungsverfahren zu optimieren. Mit der Folge, dass die KI systematisch Frauen benachteiligte. Die KI hatte mit den Datensätzen der angenommenen Bewerber trainiert und sollte so quasi lernen, welche Eigenschaften bei Amazon-Mitarbeitern bevorzugt anzutreffen sind. Am meisten stach das Geschlecht hervor, denn in den zugrunde gelegten vergangenen zehn Jahren waren vor allem Männer eingestellt worden. Der Algorithmus lernte also, dass Bewerbungen von Frauen schlechter zu bewerten seien.

Zwar passte das Entwicklerteam die Software später an, konnte aber nicht garantieren, dass die KI nicht trotzdem weiter diskriminieren würde, so Medienberichte.

KI erkennt also Muster und ist in der Lage, selbständig einmal erkannte Muster als Basis für zukünftige Entscheidungen heranzuziehen. KI kann also auch Frauenfeindlichkeit und Rassismus lernen. Es geht also um Fairness, die KI lernen müsste.

Kann KI Fairness?

Und da stoßen wir auf das nächste Problem: was ist überhaupt Fairness? Sicher kann man eine an westlichen Werten ausgerichtete Fairness deutlich von anderen Kognitionskonzepten unterscheiden – aber wie ist es innerhalb unserer Gesellschaft? Was der eine fair findet, ist für den anderen eine Grenzverletzung. Cum und Ex-betrug mag innerhalb des bestehenden Steuersystems legal sein, widerspricht aber dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit und wird daher zu Recht endlich verfolgt.
Anderes Beispiel: Die einen finden den Ankauf und die strafrechtliche Verwertung von CDs mit den Daten von Steuersündern fair, die anderen sind empört über den Geheimnisverrat, dessen sich der Staat bedient.

Anderes Beispiel: Der Arbeitsmarktservice (AMS) in Österreich, so etwas wie die deutsche Bundesagentur für Arbeit, hat angekündigt, einen Algorithmus einzusetzen, um die Chancen von Arbeitslosen auf einen neuen Job zu bewerten. Solche Prognosen für die Wirksamkeit von Maßnahmen sollen die größtmögliche Effizienz der vorhandenen Fördermittel garantieren. Das Problem bei einem Solchen „Scoring-System“: Frauen erhalten bei Bewertungen einen Abzug, nur weil sie Frau sind. Wenn sie dazu noch eine Betreuungsaufgabe haben (Kinder, pflegebedürftige Oma, …) ist der Abzug dreimal so hoch. Nicht-EU-Bürger werden niedriger bewertet, Langzeitarbeitslose ebenso. Die Verantwortlichen sagen, sie bilden nur die Realität ab. Die Probleme liegen auf der Hand. Existierende vorurteilsbehaftete Strukturen werden normativ verfestigt und prägen die Zukunft.

Iris

KI also kann immense Daten verarbeiten, Muster erkennen, die Menschen niemals (in der gleichen Sicherheit und Geschwindigkeit nachvollziehen würden), daraus Regeln ableiten, die sich auf ähnliche und weitere Fälle anwenden lassen.

Und doch: Maschinen können ihre eigenen Urteile nicht erklären, Menschen können das.

Menschen können Intuition im Umgang mit komplexen Umgebungen (ein anderer Ausdruck für umfangreiche Daten) erlernen.

Ein schönes Beispiel für die Chancen am Schluss: Künstliche Intelligenz ist heute bei der Tumorerkennung auf dem Röntgenbild so gut wie ein durchschnittlicher Arzt. Erst im Zusammenwirken sind beide – Arzt und KI – deutliche besser als der Durchschnitt der Ärzte.

Taktiles Wissen (Bsp: Abtasten zur Krebsfrüherkennung) lässt sich nicht in Daten abbilden, lässt sich nicht quantifizieren. Deswegen: der Vorschlag (der KI) einer Diagnose darf nicht die Entscheidung sein. Die Herausforderung ist, dass der Arzt in der Praxis, der Sachbearbeiter in einem Unternehmen, die KI überstimmt. Weil er seiner Intuition vertraut, und obwohl er das Risiko eingeht, falsch zu liegen. Darum geht es in naher Zukunft.

Also vielleicht: Homine, aude expertum scire.

Contra machinam artificiosam.

Die fünfte Gewalt

Medien stehen unter Druck. Unantastbar waren sie in der parlamentarischen Demokratie nie. Die Spiegel-Affäre gilt als Parade-Beispiel für politischen Druck, der über das Zulässige hinausging. Man erinnert sich aber auch an die „Rotfunk“-Kampagne gegen den WDR, an ständige politische Einflussnahme über Rundfunkräte und sogar einen Telefonanruf eines Bundespräsidenten, der auf der Voicebox des Bild-Chefredakteurs landete. Trotzdem hatten sich die Medien in der alten Bundesrepublik den Ruf als vierte Gewalt im Staate erarbeitet. Der Spiegel galt eine Zeit lang als „Sturmgeschütz der Demokratie“.

Das ist vorbei. Seit einiger Zeit sind die Medien mächtig in der Defensive. Da ist die fortlaufende Denunziation von Rechtsaußen mit dem hämischen Begriff der „Lügenpresse“ (die AfD spricht gerne von „Systempresse“ und diffamiert damit in einem Atemzug die parlamentarisch demokratische Grundordnung mit).

Doch auch wirtschaftlicher Druck macht vielen Medien zu schaffen. Die Erlössituation vieler Printprodukte hat sich massiv verschlechtert. Zunächst wanderten Anzeigenkunden ins Internet ab, weil sie dort mehr Reichweite zu günstigeren Konditionen erzielten. 20 Jahre lang suchten Tageszeitungsverleger nach Geschäftsmodellen, mit denen sie journalistische Produkte trotz der Gratiskultur im Netz vermarkten konnten. Auf sinkende Auflagen ihrer papierneren Produkte reagierten sie mit Effizienzsteigerungen, Vertriebsoptimierung und immer wieder mit Kostensenkungen. Redaktionen wurden ausgedünnt, Korrespondentenstellen gestrichen, Verlage fusionierten. Mit drastischen Folgen für Recherchetiefe, Qualität und Meinungsvielfalt.

Diese Trends machen auch vor dem gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nicht Halt, deren Überleben weit weniger von Erlösmodellen abhängt als von gesellschaftlicher und politischer Akzeptanz. Die potenziellen Kunden reagieren rational. Warum für Information bezahlen, wenn ich im Netz mehr als genug umsonst erhalte. Der Siegeszug der großen Internetkonzerne, verschärft mit dem Aufkommen von Social Media, hat diese Trends beschleunigt und verschärft.

Jetzt haben wir eine neue Meinungsvielfalt, es gibt gar „alternative Fakten“. Jeder Mensch kann jederzeit ungeprüft alles ihm wichtig Erscheinende in die Welt hinausposaunen – ein Echo ist ihm gewiss, und sei es in der eigenen Filterblase. Eine neue „Macht und Einflusssphäre“ ist entstanden, eine fünfte Gewalt neben der Exekutive, der Judikative, der Legislative und dem traditionellen Journalismus. Diese fünfte Gewalt unendlich viele Gesichter. „Sie ist hässlich und grausam, klug und moralisch, mal am Gemeinwesen und einer funktionierenden Demokratie interessiert, dann wieder zerstörerisch“, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Mal tritt sie auf als enthemmter brutaler Mob, mal als politische Agitatoren, mal sind es zusammengerottete Trolle, „die einfach nur wüten, spotten, hassen und sich an der Reaktion auf ihre Aggression aufgeilen“ (Pörksen). Und natürlich gibt es auch die Idealisten, die Engagierten, die Aufrechten.

Die vielen verschiedenen Gruppen haben keine gemeinsame Ideologie, sondern nur die Plattform und die Kommunikationsmittel, die sie nutzen, nämlich soziale Netzwerke und Blogs, Wikis und Websites, Smartphones und schnelle Computer. Wenn die Gruppen sich zusammenrotten, entfalten sie Macht und erlangen Einfluss. Im guten und im schlechten Sinne – die Beispiele sind unzählig.

Und schon kann man eine neue Volte in der permanenten digitalen Revolution beobachten. PR-Söldner übernehmen den Kampf um Aufmerksamkeit, man kann Likes und Clicks kaufen, Fans und Follower vortäuschen, Masse suggerieren. Gefakte Accounts und Social Bots lassen sich wie Armeen im Kampf um kommunikative Meinungsmacht steuern und einsetzen.

Demokratie lebt von dem Prinzip der Macht auf Zeit, von der gegenseitigen Kontrolle, vom System des Checks and Balances. Deswegen ist es richtig, wenn der Gesellschaftsvertrag, der die Grundlage einer funktionierenden Demokratie bildet, ständig neu diskutiert und justiert wird. Der Staat hat begriffen, dass er tätig werden muss. Sucht aber noch nach geeigneten Wegen. Die Regulierung von Intermediären und virtuellen Plattformen ist schwierig, aber die Diskussion darüber schreitet voran. Gesetzesinitiativen gegen Hate-Speech und Fake News können nicht nur appellativen Charakter haben. Wie aber entfalten sie Wirkung, ohne Meinungsvielfalt, Pressefreiheit, den öffentlichen Diskurs mit zu beschädigen, den sie doch schützen wollen? Nebenbei: Medienbildung ist wichtiger denn je. Doch die fünfte Gewalt lässt sich nicht allein durch Pädagogik zivilisieren. Die gesellschaftliche Debatte nimmt an Fahrt auf. Der Kampf um Machtanteile im System der Gewaltenteilung wird intensiver. Entschieden ist noch nichts.

Markus Lahrmann

re:publica 2017

Drei anstrengende Tage in Berlin. Eine Handvoll von den über 300 Sessions, Vorträgen oder Workshops kann man vielleicht besuchen – und das ist immer noch mehr als genug, wenn man das Gehörte verstehen will, gründlich durchdenken will, parallel dazu die Kommentare und Argumentationsfetzen auf Facebook, die Meinungen, Ergänzungen, etc. auf Twitter, den Links nachgehen, die dazu gepostet werden, die Bilder zu betrachten, Videohappen und Fotos auf Instagram, Snapchat und ich weiß nicht was für Kanälen zu betrachten. Und dann selbst liken, sharen, kommentieren, ergänzen.

Und dann vielleicht noch ein paar Stunden später oder am nächsten Tag die Berichte von den Kollegen in den professionellen Medien über die Sessions nachlesen und vergleichen mit dem, was man selbst erfahren und notiert hat. Während man längst schon weitere Sessions verarbeiten muss.

Dann die Gespräche mit den Freunden, Small-Talks mit Bekannten, das Begrüßen von Kollegen in ähnlichen Arbeitsfeldern, die genauso über die Veranstaltung hasten. Die Augen schwirren umher, um nicht jemanden zu übersehen, der auch durch die große Halle schlendert. Es brummt vor Geschäftigkeit. Hier präsentiert der WDR mit der Maus den Kölner Dom mit einer virtuellen Brille, dort führt der Deutschlandfunk ein Video-Interview, die Bundesländer Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg präsentieren sich an Ständen, die Deutsche Bahn ist da, man drückt sich durch Menschenhaufen, stellt sich in Schlangen, um einen Kaffee zu erhalten, muss mit einem Tweet bezahlen, wenn man ein Werbegeschenk erhalten möchte. Menschen starren auf Bildschirme, tippen auf Displays, sprechen in Microphone.

Ein Zustand ständiger Reizüberflutung.

Hoffnungslos der Versuch, den Überblick zu gewinnen. Man muss auswählen, kann nur Eindrücke gewinnnen, es gewinnt, eas die größte Aufmerksamkeit erregt.

Deswegen hier Eindrücke:

Das Motto „love out loud“. Zunächst mal ein Sprachspiel, eine Anlehnung an das abgenutzte spottende „lol“, was als Kurzform für „laugh out lout“ steht. Dann aber: Das stärkste Gefühl im Befehlston. „Liebt laut!“ Nicht wie einst Erich Fromm „Die Kunst des Liebens“ oder gar Jesu Vermächtnis: „Liebt einander wie ich euch geliebt habe“, sondern: „Liebt laut“.

Das ist auch zu verstehen als Reaktion auf den Zustand im Netz: Hass und Verunglimpfung, auf Wutbürger und Trolle, eine Antwort auf Hatespeech und Drohungen.

Und wie eine Hohepriesterin der Liebe tritt die Publizistin Carolin Emcke auf, die den Hauptvortrag zur Deutung des Mottos hielt: puristische Erscheinung, dunkel gekleidet, ernst und philosophenschwer ihre Worte, eine Stimme fast im Ton einer gekonnten Predigt, unterschwelliges Pathos, Moral angereichert durch eigene Erfahrung, tiefsinniges Denken aufscheinend.

 

Als Kontrapunkt dazu die Gunther Dück, der – deutlich älter als das Durchschnittspublikum – den Narr gibt, der die Wahrheiten ausspricht, die alle zum Lachen bringen, weil sie jeder kennt, aber keiner so ausspricht wie er. Mathematiker, früherer IBM-Manager, furchtlos. Der weiß, dass es nur wenige Dinge gibt, die ewig bleiben – und deswegen über die anderen Dinge redet. Wenn man genau hinhört, wird’s sentenzenhaft politisch („Liebe den Fremden wie dich selbst und nenne deinen Nächsten nicht Pack“!) oder für Momente zeitgeist-kritisch („Die Geisteswissenschaftler sind ein bisschen netzphob“). Darüber ließe sich nachdenken, daraus ließen sich Handlungsempfehlungen ableiten, wenn nicht schon der nächste Lacher zündet, das nächste Bild aufscheint. Und zieht dann noch eine Schleife über den Rundfunkstaatsvertrag, das verschüttete Bildungsgut in den Mediatheken

Vor zwei Jahren war ich zum ersten Mal bei der re publica. Damals war ich verwundert, wie ungeniert diese Konferenz von großen internationalen Konzernen geponsort und unterstützt wird. Wer das Gefühl hatte, dass sich dort Hacker, Alternative, Nerds freigeister treffen und dann Brandings von Daimler, Microsoft, IBM etc. sah, konnte zumindest staunen.

Der Staat spielt eine Rolle auf der re publica. Das Arbeitsministerium ist mit einem großen Stand vertreten, propagierte „Arbeiten 4.0“ und die Standorganisatoren schienen nicht gemerkt zu haben, dass der riesige aufgeblasene Gummi-Dinosaurier am Stand wie Form gewordener Spott wirken konnte.

Ministerin Nahles trat auf, Innenminister De Maiziere diskuierte – das kriegt eine Form wie ein Katholikentag.

dmexco 2016

Ein Besuch auf der dmexco

Mehr als 950 Aussteller, über 50.000 Besucher – die „größte und hochkarätigste Messe der globalen Digitalwirtschaft“ (Eigenwerbung) veranstaltete Mitte September der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) in Köln. Daten aller Art sind der Rohstoff dieses Industriezweigs, der gigantisch wächst. Standortdaten, Nutzervorlieben, Daten aus Verhalten, biometrische Informationen – alles wird gesammelt, verknüpft, aufbereitet und in Anwendungen, Produkte und Apps ausgespielt. Das ist nichts Neues?

Ein Beispiel: Google arbeitet gerade an Kontaktlinsen, die automatisch den Zuckergehalt in der Tränenflüssigkeit messen und die Informationen weitergeben. Eine Push-Nachricht und der Diabetiker weiß, dass es Zeit ist Insulin zu spritzen. Funktioniert das, dann werden die Hersteller von Blutzuckermessgeräten ein Problem bekommen. Verknüpft Google die Daten mit einer Online-Apotheke, schickt die demnächst automatisch den Nachschub des Medikaments. Dann hat auch die Apotheke um die Ecke einen Dauerkunden weniger.

Nicht jedes Geschäftsmodell, das in dieser digitalen Revolution erfunden wird, ist von Beginn an ausgereift und wird sich durchsetzen. Und doch sind wir Zeugen einer gigantischen Umwälzung. Entwicklungen wie Connected Home & Cars verknüpfen Daten aus höchst privaten Bereichen und versprechen einen Mehrwert: Die Heizung weiß, dass ich in zwanzig Minuten zuhause sein werde, und springt an. Solche Erleichterungen im Alltagsleben führen zu großer Akzeptanz bei Menschen: wir nutzen das Navi, wir fragen Google Maps nach Restaurant-Tipps, teilen Erlebnisse bei Facebook, immer mehr Menschen nutzen Messenger-Dienste. Und weil alles umsonst ist, akzeptieren wir Werbung und liefern Daten. Digitales Marketing arbeitet schon mit kontextrelevanten und individuellen Problemlösungsangeboten: Platte Botschaften langweilen, wertvolle Produkte, hilfreiche Services und gute Geschichten begeistern Nutzer und Käufer.

Nicht jeder ist begeistert, nicht jeder ist bei Facebook, nicht alle halten Schritt. Doch manche Zahlen sprechen für sich: Inzwischen nutzen mehr Menschen Mobilgeräte als stationäre PCs (67 zu 33 Prozent bei den 14-29jährigen, immer noch 52 zu 48 Prozent bei den Ü54jährigen). Apps überflügeln das mobile Web (87 zu 13 Prozent). Das Suchverhalten verändert sich, digitale Assistenten wie „Google Now“ sind die Antwort. Wenn die App aufgrund von Daten und Algorithmen weiß, warum ich etwas suche, wird sie mir die Antworten liefern, bevor ich die Frage gestellt habe. Wer das am besten kann, liegt vorne.

Was das alles mit Caritas zu tun hat? Ehrlich gesagt: das ist immer noch schwer abzuschätzen. Aber wenn ich über solch eine Messe wie die dmexco gehe, dann glaube ich: da kommt noch einiges. Ein Beispiel: Würden wir heute noch teure Werbekampagnen für Pflegekräfte mit Plakaten, Webseiten und Flyern konzipieren? Oder einen Anbieter beauftragen, aufgrund von frei zugänglichen Daten eine relevante Zielgruppe (z.B. Frauen mittleren Alters, die nach einer Familienphase wieder in den Beruf einsteigen wollen) in einem fest umrissenen Gebiet zu identifizieren, denen wir in ihre täglich aufgerufene Wetter-App eine Werbeanzeige für offene Stellen einspielen lassen? Technisch ist das kein Problem. Billiger ist es auch. Andere sind längst soweit.

Markus Lahrmann

Interview Netzwirtschaft

Intro: Dem Online-Portal „Netzwirtschaft“ habe ich ein Interview gegeben, das ich hier noch einmal aufnehme. Das Interview ist Teil einer Serie von rund 500 Interviews.

Wer ist Markus Lahrmann? Bitte stell Dich doch mal kurz vor.

Echter Westfale, geboren 1964 in Ibbenbüren. In Köln und Berlin Studium der Germanistik, Philosophie und Pädagogik (Magister Artium). Freier Journalist, Pressereferent, Volontariat, Pressesprecher. Derzeit Chefredakteur der Zeitschrift Caritas in NRW, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit der Caritas auf Landesebene NRW.

Verheiratet, drei Kinder, darunter Zwillinge, mit denen ich ein Jahr Erziehungsurlaub genossen habe (1999).

Mitglied in der Landesmedienkommission NRW (entsandt von den Wohlfahrtsverbänden), Vorstandsmitglied der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW.

Damit wir Dich nicht nur aus beruflichem Blickwinkel kennenlernen, verrate uns doch auch einen kleinen Spleen von Dir.

Den Dingen auf den Grund gehen.

Wenn ich eine Geschichte lese, will ich den Spin dahinter erkennen: Wem nützt dieser Dreh? Warum sagt der jetzt sowas und was meint der wirklich? Was hat er davon, wenn er die Geschichte so verkauft? …

Den Dingen auf den Grund gehen erstreckt sich auch auf Alltagsgegenstände: wie funktioniert mein Staubsauger? Wie kann ich unseren Trockner reparieren? Warum leckt die Kondensatpumpe an der Heizung? Wie muss ich meinen Router konfigurieren, damit mein jüngster Sohn nicht Tag und Nacht im Netz hängt?

Elevator Pitch! Was macht Eure Firma? Und vor allem: was macht ihr am besten, wo liegt Eure Superpower?

Caritas: Aktiv und engagiert in Sachen Nächstenliebe (übrigens weltweit). Professionell in sozialen Dienstleistungen (das, womit wir alle im Laufe unseres Leben irgendwie in Kontakt kommen): das Spektrum der Leistungen reicht vom Kindergarten über Schulen zu Ausbildungsstätten, über Beratungsstellen für suchtkranke, pflegebedürftige oder behinderte Menschen, alte und kranke Menschen, von der Erziehungsberatungsstelle bis zum Krankenhaus. Caritas heißt auch: sich einsetzen für Schwache und Benachteiligte, Stimme sein für die Armen und Ausgegrenzten.

Die Caritas in Deutschland hat über 590.000 hauptberufliche Mitarbeiter, die in rund 25.000 Diensten und Einrichtungen arbeiten. Aber: Wir sind kein Konzern, denn unzählige Einheiten sind rechtlich selbständig und finanziell autonom. Der Tanker als Ganzes ist manchmal unglaublich schwerfällig, trotzt aber auch den härtesten Stürmen und sogar Monster-Wellen. Die unzähligen kleinen Beiboote sind oft flink und neugierig und auch sehr innovativ.

Caritas in Deutschland sind aber auch bis zu 500.000 Ehrenamtliche, die sich sozial engagieren. So ein Verband mit einer solchen Struktur ist eine besondere Herausforderung für jeden Verantwortlichen in jedweder Kommunikationsabteilung. (Wenn jeder kommuniziert, was und wie er will, hat es strategische Markenkommunikation schwer.)

Wie lebt ihr Digitalisierung in Eurem Unternehmen? In welchem Bereich habt ihr Digitalisierung erfolgreich um- oder eingesetzt?

Die Digitalisierung hat massiv die Kommunikationsabteilungen in der Caritas beeinflusst. Wenn man täglich mit Journalisten zu tun hat, ist bald klar: Faxe ausdrucken ist sowas von gestern…

Auf die Social-Media-Revolution hat die Caritas vielfältig reagiert: mit öffentlicher Diskussion von Social-Media-Guidelines, mit dauerhaften Präsenzen auf vielen Channels, mit Kampagnen-Blogs, mit Social-Media-gestützten Fachkräfte-Kampagnen, mit einem bundesweiten Social-Media-Projekt und lokalen Labs. Überall wird experimentiert, etabliert, diskutiert.

Es gibt etablierte Formen der sozialen Online-Beratung, es gibt Schwangerschafts-Beratung bei Facebook und Gewalt-Beratung im Chat, es gibt digitale Freiwilligen-Börsen und jede Menge andere tolle Beispiele. Und dennoch: die Herausforderungen sind noch ungleich größer als unsere derzeitigen Antworten und Projekte. Das liegt an Struktur und Finanzierung des sozialen Sektors.

Wenn Du Dir die Netzwirtschaft insgesamt, Euren Markt, Eure Firma, Deine Position ansiehst, was werden die Haupt-Herausforderungen in den nächsten Monaten oder Jahren sein?
  • Herausforderung für die Gesellschaft, bzw. den Staat:

Der öffentliche Diskurs ist massiv gefährdet durch Aufhebung der Privatheit, Hatespeech und digitale Brandstiftung. Kommunikative Vernunft und der Austausch der besten Argumente ist die Grundlage von Demokratie. Die paar Systemgegner, die Demokratie schon immer unterlaufen wollen, halten wir aus. Aber die vielen Trittbrettsurfer, die Dummies, Pöbler und Trolle vergiften das Klima nachhaltig und damit den öffentlichen Diskurs.

  • Herausforderung für die Netzwirtschaft in Deutschland / Europa:

Wenn Daten der Rohstoff des 21. Jahrhunderts sind, warum überlassen wir Konsumenten sie einfach so den großen Vier (Google, Facebook, Amazon und Apple)? Wir sind dabei unsere Seele und unsere Identität zu verschleudern – freiwillig und viel zu billig.

Netzneutralität wird politisch diskutiert, aber auch die Wirtschaft braucht den chancengleichen Zugang (auch für kleine Start-Ups) zum Markt. Das wird nur europaweit zu regeln sein – und das ist gerade nicht ermutigend.

Wir müssen dringend diskutieren über die Rolle von Intermediären und virtuellen Plattformen. Die etablierten Medien werden sowas von abschmieren, wenn sie nicht endlich eine Antwort finden auf den Verlust ihrer Gatekeeper-Funktion. Natürlich braucht es auch da Regulierung, um Chancengleichheit und Vielfalt zu sichern.

Der blinde Glaube an den Algorithmus macht mich wütend.

  • Herausforderung für unseren Markt:

Die Digitalisierung wird massiv Arbeitsplätze kosten, vor allem in der Industrie. Soziale Dienstleistungen sind meist personengebunden, bauen auf Beziehungen zwischen Menschen auf. Überall da, wo es auch bei uns um automatisierte Abläufe geht, also Verwaltung, Dokumentation, auch Kommunikation, wird die Digitalisierung Arbeitsabläufe verändern. Denkbar ist auch der Einsatz von Pflegerobotern, von Maschinen, die Verhalten von Patienten und Klienten beeinflussen und steuern.

Die große Herausforderung wird dann sein, die effiziente Zusammenarbeit von Technikern, IT-Leuten und beispielswiese Pflegekräften, Sozialarbeitern, Ärzten etc. zu managen. Und dann gilt es, die Schnittstelle zum Menschen auf der anderen Seite zu gestalten: Wir erleben gerade die großen Probleme, die ein erfolgreicher Hackerangriff auf die IT von Krankenhäusern nach sich zieht.

Ein anderes Beispiel: Der Caritas-Claim lautet „Not sehen und Handeln.“ Wir helfen Menschen , die in Not sind, unabhängig von ihrer Religion, ihrem Alter, ihrem Geschlecht. Im Zeitalter des Algorithmus gibt es inzwischen Tools, die auf Basis von Informationen aus dem Internet Asylbewerbern eine Wahrscheinlichkeit dafür zuweist, dass sie Terroristen sind und nicht ins Land gelassen werden sollten. Die Diskussion, darüber, wer welchen Algorithmus nach welchen Standards programmiert und wer dann kontrolliert beginnt erst. Das sind zutiefst ethische Fragen.

Nacktbilder werden bei Facebook gelöscht, Nazisymbole hingegen nicht unbedingt. Wo sind da die roten Linien? Es geht um das Zusammenleben in der Gesellschaft – und das alles sind dann Fragen, die auch den Sozialarbeiter betreffen, der sich um Menschen kümmert.

  • Herausforderung für unsere Firma:

Wir brauchen mehr Innovationsmanagement im Hinblick auf Digitalisierung. Wir müssen mehr investieren und nicht warten bis andere modernisieren und billiger sind. Wir brauchen mehr Labs, kleine Werkstätten für digitale Entwicklung im großen Sozialmarkt.

Wir müssen aber auch Angebote entwickeln für die Verlierer der digitalen Spaltung. Neue Phänomene wie Internet-Sucht, Online-Spielsucht etc. gilt es wahrzunehmen und zu heilen.

Was hat Dich bisher am meisten „am Internet“ geärgert, was am meisten gefreut?

Jetzt ganz persönlich: Am „Internet“ ärgern mich meist technische Unzulänglichkeiten: Also langsame Leitungen, schlechte Software, überladene Updates, Viren und der ganze Mist, vor dem man sich immer aufwendiger schützen muss. Was dazu führt, dass sich die digitale Spaltung inzwischen Leuten, die es können und Leuten, die es nicht hinkriegen, vertieft.

Mich freut hingegen die unglaubliche Vielfalt an Wissen und an Recherche-Möglichkeiten. Auch die Selbstlosigkeit und Freude, mit der gute Leute ihr Wissen und ihre Erfahrungen teilen, finde ich toll.

Gib uns doch bitte eine Empfehlung für…
  • einen Blog / eine Newsseite / ein Fachmagazin, mit dem/der Du Dich zu Fachthemen gerne informierst

Als Fachmagazin: Derzeit die Medienkorrespondenz (MK; früher: Funkkorrespondenz), eine deutsche Medienfachzeitschrift, die seit 1953 herausgegeben wird. In der Medienkorrespondenz enthalten sind Artikel und Meldungen über Medienpolitik und Rundfunkanstalten, Kritiken und Nachrichten über Hörfunk- und Fernsehsendungen. Nicht nur pointiert geschrieben, ausführlich auf einem hohem Niveau argumentierend, sondern auch sehr reflektiert.

Zu netzpolitischen Themen der Blog netzpolitik.org.

  • einen Artikel, der Dich in der letzten Zeit am meisten begeistert hat

Shoshana Zuboff: „Wie wir Googles Sklaven wurden“. Erschienen am 5.3.2016 im Feuilleton der FAZ. (Shoshana Zuboff ist emeritierte Charles-Edward-Wilson-Professorin der Harvard Business School. Ihr Buch „Master or Slave: The Fight for the Soul of Our Information Civilization“ wird im kommenden Jahr erscheinen.)

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/shoshana-zuboff-googles-ueberwachungskapitalismus-14101816.html

  • ein spannendes Buch, das Dich inspiriert hat

„The Circle“ von Dave Eggers fand ich literarisch schwach. Trotzdem man muss ihm zugestehen, dass er das Problem bis zum Ende durchdekliniert. Dass er dabei auf ein Wohlfühl-Ende verzichtet, setzt einen Stachel, der bleibt. Das Buch ist wichtig, um eine Idee vom großen Ganzen zu bekommen.

Wer es literarisch anspruchsvoller mag: „Bleeding Edge“ von Großmeister Thomas Pynchon. Da ist (fast) alles drin, was Amerikas Gesellschaft in digitalen Zeiten ausmacht (Social Media fehlt allerdings weitgehend).

  • eine Veranstaltung(-sreihe), auf der Du wirklich etwas dazugelernt hast

Ich war 2015 zum ersten Mal auf der re:publica in Berlin und fand es großartig. Weil hier in meinem Berufsfeld, nämlich der Kommunikation, vor Ort nicht nur auf hohem Niveau reflektiert und diskutiert wurde, sondern das ganze auch auf den zahlreichen digitalen Kanälen weitergespielt und vervielfältigt wurde.

  • das hilfreichste Tool / die hilfreichste Software für Deine Arbeit

Ich bin tatsächlich Anhänger der E-Mail. (Hängt wahrscheinlich mit meinem Alter zusammen.)

Mit welchem Experten würdest Du am liebsten einmal 1 Tag zusammenarbeiten, und warum?

Ich würde gerne mal im Silicon Valley arbeiten – aber nicht einen Tag, sondern mindestens ein halbes Jahr. Mit welchem Experten, ist dann fast egal, Hauptsache, es geht um Netzwirtschaft. Mir interessiert die Haltung, dieser Erfindergeist, der Wagemut, die Leichtigkeit, …

Weitere exklusive Interviews aus der Netzwirtschaft gibt es hier.